Die koordinativen Fähigkeiten gehören wie auch die konditionellen Fähigkeiten zu den motorischen Basisfähigkeiten. Die Motorikforschung unterscheidet dabei die energetisch-bedingten konditionellen Fähigkeiten - also jene Fähigkeiten, die von der Energiebereitstellung bzw. Energieübertragung beeinflusst werden - von den zentralnervösbedingten koordinativen Fähigkeiten, die für die Bewegungssteuerung und Bewegungsregelung zuständig sind.
1. Koordinative Fähigkeiten
Zunächst soll auf den Bereich der Koordination eingegangen werden. In der aktuellen Literatur existieren viele Meinungen zur Ausbildung der konditionellen und koordinativen Fähigkeiten. Anhänger der sensiblen Phasen (vgl. Beug, R. et. al., o.J.), deren Ursprung allerdings in der Embryologie zu finden ist, propagieren enge Zeiträume, in denen eine optimale Ausbildung sowohl konditioneller als auch koordinativer Fähigkeiten zu leisten sei (vgl. Baur, J., 1987). Da diese Ergebnisse jedoch in der Fachliteratur umstritten sind, sollte für das Kinderturnen keine detaillierte, sprich jahrgangsweise, Zuordnung erfolgen, sondern alle koordinativen Fähigkeiten sollten gleichermaßen durch das ganze Kinderturnalter hindurch regelmäßig gefördert werden.
In der neueren Literatur wird die Bezeichnung Geschicklichkeit / Gewandtheit vom Begriff der koordinativen Fähigkeiten abgelöst. Dahinter verbergen sich v.a. die Eigenschaften "Differenzierungsfähigkeit", "Gleichgewichtsfähigkeit", "Räumliche Orientierungsfähigkeit", "Reaktionsfähigkeit" sowie die "Rhythmisierungsfähigkeit" (vgl. Beug, R et. al., o.J.). Was versteckt sich nun hinter diesen Fähigkeiten und wie lassen sie sich im Kinderturnen und im Kindergarten in einfacher Weise verbessern?
Differenzierungsfähigkeit
Die "kinästhetische Differenzierungsfähigkeit", auch Bewegungsgefühl genannt, ist das gezielte und ökonomische Einsetzen der eigenen Kraft. Hierbei werden Spannungs- und Dehnungsveränderungen in den verschiedenen Muskeln, Sehnen und Gelenken wahrgenommen, was dazu führt, dass Bewegungen bewusst angesteuert werden können.
Möchte ein Kind beispielsweise in ein Sprungbrett einspringen, muss es die Absprungkraft so differenzieren können, dass das Sprungbrett im optimalen Punkt getroffen wird.
Gleichgewichtsfähigkeit
Bei der Gleichgewichtsfähigkeit unterscheidet man zwischen stabilem und labilem Gleichgewicht bzw. statischem und dynamischem Gleichgewicht.
Balancieren in verschiedenen Höhen oder Drehungen um die Körperlängs- bzw. Breitenachse erfordern ebenso ein gutes Gleichgewichtsvermögen, wie schnelle Richtungsänderungen (etwa bei einem Fangspiel).
Räumliche Orientierungsfähigkeit
Bewegen sich mehrere Kinder im Raum oder dreht sich ein Kind beim Salto in der Luft, so wird räumliche Orientierungsfähigkeit benötigt (wo sind die anderen bzw. wo ist der Boden - wann muss ich beim Salto "aufmachen"). Gute Ballspieler zeichnen sich durch eine hervorragende räumliche Orientierungsfähigkeit aus, denn sie müssen bspw. unter Zeitdruck erkennen, wo sich die Mitspieler, die Gegenspieler und der Torwart befinden, um eine optimale Lösung der Aufgabe (ein Tor schießen) zu ereichen. Die räumliche Orientierungsfähigkeit ist also die Wahrnehmung im Raum (horizontal, vertikal und sagital) mit der Kontrolle der eigenen Bewegung unter Zuhilfenahme der Augen und des Gleichgewichtsorganes.
Reaktionsfähigkeit
Reagieren kann der Mensch sowohl auf einfache Signale (bspw. Startschuss = Einfachreaktion) oder auf variable Bedingungen (bspw. in Spielsituationen =Auswahlreaktionen). Vor allem die Auswahlreaktionen lassen sich durch gezielte Förderung verbessern, aber auch bei den Einfachreaktionen kann man geringfügige Verbesserungen erzielen.
Rhythmisierungsfähigkeit
Wenn Kinder einen Tanz lernen sollen oder eine Turnerische Bewegung wie Hopser-Radwende (FlickFlack) durchführen, müssen sie einen bestimmten Rhythmus aufnehmen oder umsetzen können.
Die Rhythmisierungsfähigkeit ist demnach das Aufnehmen von einem vorgegebenen Rhythmus, Akzente in einer Bewegung zu setzen oder einen Bewegungsablauf rhythmisch zu gliedern.
1.1. Anforderungs- und Druckbedingungen
Bewegungsaufgaben können jederzeit verändert werden. So besteht die Möglichkeit, eine Bewegung genau auszuführen (denken wir dabei etwa an den Schwebebalken) oder sie schnell auszuführen (etwa ein Sprint). Es ist jedoch häufig notwendig, eine Bewegung sowohl genau als auch schnell auszuführen. Dies trifft v.a. dann zu, wenn unter Wettkampfbedingungen der Sprint durchgeführt werden soll und nur kleinste Zeiteinheiten über den Sieg oder die Niederlage entscheiden. Hierbei handelt es sich jedoch meist um geschlossene Situationen, bei denen keine variable Verfügbarkeit notwendig ist. Ein Sprint findet immer auf derselben Strecke (Länge) statt, lediglich Wind oder Bodenbeschaffenheit wechseln ggf. Ebenso der Schwebebalken, der sowohl in der einen als auch in der anderen Halle immer dieselben Maße hat.
In Spielsportarten oder Sportarten mit Gegnerkontakt jedoch wechseln die Anforderungen an die Bewegungshandlung laufend. Der Sportler muss variabel auf die Bewegung zugreifen können, egal wie viele Gegner und Mitspieler sich in seinem Umfeld mit ihm agieren bzw. sich gegen ihn richten. Hier wird neben einer genauen und schnellen Bewegungsausführung also auch eine variable Verfügbarkeit der Bewegungshandlung verlangt.
Dabei gibt es eine ganze Reihe unterschiedlicher Anforderungs- oder Druckbedingungen: den Zeitdruck , den Präzisionsdruck , den Komplexitätsdruck , den Organisationsdruck , den Belastungsdruck und den Variabilitätsdruck . Jeder dieser Einflussfaktoren kann sowohl hoch als auch niedrig sein, je nachdem, welche Situation vorherrscht.
1.2. Propriozeptives Training
Unter dem Aspekt der Koordinationsschulung soll kurz auch auf das propriozeptive Training eingegangen werden. Bei der Propriozeption handelt es sich um einen Teilaspekt der Koordination, die auch als Tiefensensibilität bezeichnet wird. Beim Studium der aktuellen Literatur finden sich Hinweise, dass v.a. die Gleichgewichtsfähigkeit, die Anpassungsfähigkeit, die Reaktionsfähigkeit wie auch die Differenzierungsfähigkeit in diesem Zusammenhang eine wesentliche Bedeutung besitzen. Propriozeptives Training zielt diesen Theorien folgend auf die Verbesserung der Tiefensensibilität ab, wobei die Wahrnehmung im Vordergrund steht. Sie zielt jedoch auch auf die reflektorische Muskelaktivität (bei passivem und aktivem Bewegen) sowie die Wiederherstellung und Stabilisierung von Gelenkstellungen. Seit das Dehnen in der Funktionellen Gymnastik stärker hinterfragt wird (siehe unten), erfährt die Propriozeption starke Nachfrage. So zeigt sich, dass die bisher angenommenen Wirkungen des Dehnens nicht oder nur teilweise erfüllt werden.
Gerade im Kinderturnen kann Propriozeptives Training im Gegensatz zu Dehnübungen, die sich bei Kinder eh keiner großen Beliebtheit erfreuen, viel sinnvoller eingesetzt werden und könnte nach und nach das Dehnen gänzlich ablösen.
2. Konditionelle Fähigkeiten
Hier spielt im Kinderturnen insbesondere der Bereich der Kraft eine wesentliche Rolle. Zur genaueren Analyse sind die verschiedenen Kraftarten zu betrachten ( Reaktionskraft, Maximalkraft, Schnellkraft, Kraftausdauer, Ausdauerkraft ) und auf das Sporttreiben mit Kindern hin zu analysieren. Hier gilt es dem Aspekt der Kraftausdauer im Sinne einer umfassenden Haltungsschulung besondere Aufmerksamkeit zu schenken, da die Haltungsschulung in jeder Altersstufe des Kinderturnens eine zentrale Rolle spielen muss. Dazu sind keine besonderen Sportgeräte notwendig, das eigene Körpergewicht reicht in der Regel für eine Kräftigung im Kindesalter aus.
In diesem Zusammenhang gilt es auch Überlegungen anzustellen, inwieweit Dehnübungen - auch wenn das Dehnen nicht in allen Betrachtungsweisen den konditionellen Fähigkeiten zugeordnet werden kann - bei der Haltungsschulung mitberücksichtigt werden sollen. Betrachtet man hierzu die bislang angenommen Wirkungen des Dehnens (Verletzungsprophylaxe, Erweiterung der Gelenkreichweite, Senkung des Dehnungswiderstandes, Vermeidung / Behebung neuromuskulärer Dysbalancen, Verlängerung der Muskulatur, Senkung des Muskeltonus, Optimierung der Regeneration, Vermeidung von Muskelkater, Vorbereitung / Optimierung sportlicher Tätigkeiten zur Optimierung) sowie die aktuelle Diskussion über die tatsächlichen Wirkungen , so muss gerade im Kinderturnen die Frage gestellt werden, welchen Sinn Dehnen überhaupt macht.
Tatsächliche Wirkungen des Dehnens
- Sowohl statische, postisometrische als auch dynamische Dehnungen führen zu kurzfristiger Vergrößerung der Gelenkreichweite sowie zu einer kurzfristigen Reduktion der Dehnungsspannung;
- es bestehen signifikante Unterschiede zwischen den verschiedenen Dehntechniken im Hinblick auf die Bewegungsreichweite und der Veränderung der Dehnungsspannung;
- die direkte Eigendehnung erzielt die größte Bewegungsreichweite
- auch subjektiv stellen die Probanten Vorteile der direkten Eigendehnung gegenüber den beiden indirekten Methoden fest
- Im kurzfristigen Wirkungsbereich senken Dehnungen des Dehnungswiderstand. Im mittelfristigen Wirkungsbereich kann durch wiederholte Dehnungen die Beweglichkeit Grenzen gesteigert werden. Im längerfristigen Wirkungsbereich kommt es zu weiteren, wenn auch geringer ausgeprägten Beweglichkeitserweiterungen. Langfristig erhöht sich jedoch der Dehnungswiderstand!
- Die Länge des Muskels kann durch Dehnübungen nicht beeinträchtigt werden.
- Der Muskeltonus kann durch Dehnübungen langfristig nicht gesenkt werden.
- Dehnen hat, ebenso wenig wie das auslaufen, einen Einfluss auf den Laktat-Abbau. Statisches Dehnen behinderte tendenziell sogar den Laktat-Abbau, da die Venen kurzzeitig abgepresst werden.
- Dehnungen können weder Muskelkater noch die mit dem Muskelkater zusammenhängenden metabolischen Veränderungen beeinflussen. Wenn Muskelkater eingetreten ist, können intensive Dehnungen den Muskelkater sogar verstärken.
- Es gibt keinen Nachweis, dass Dehnungen muskuläre Verletzungen verhindern können. Tendenziell zeigen die wissenschaftlichen Studien sogar eine Erhöhung des Verletzungsrisikos durch Dehnen.
Eindeutig ist, dass Dehnungen vor sportlichen Leistungsanforderungen die Schnell- und Maximalkraftentwicklung der Muskulatur deutlich einschränken. So verlängern sich nach statischen Dehnungen bei Sprüngen die Bodenkontaktzeiten, die Sprunghöhe verringert sich und weitere leistungsrelevante Parameter verändern sich in leistungsnegativer Richtung.
3. Literatur
Baur, J. (1987): Über die Bedeutung "sensibler Phasen" für das Kinder- und Jugendtraining. Leistungssport 17/4 (S. 9-14).
Beu g, R. et al. (ohne Jahr): Bewegung, Spiel und Sport in der Schule. Schulung und Verbesserung der koordinativen Fähigkeiten. Weilheim/Teck: Bräuer GmbH.
Freiwald, J. (2000). Dehntechniken auf dem Prüfstand. In: Deutscher Turnerbund (Hrsg.) Deutsches Turnfest. Kongressbericht Turnfestakademie , S. 188-197. Leipzig.
Kolupa, I., Lange, S., Noecker, A., Ruehl, A. & Selchow, U. (2002). Kinderturnen - motorische Grundlagenausbildung . Frankfurt: MT-Druck.
Lange, S. (2001). Koordinative Fähigkeiten im Kinderturnen. Magazin für Übungsleiterinnen und Übungsleiter , (1). Meyer&Meyer: Aachen.
Neumaier, A. (1999). Koordinatives Anforderungsprofil und Koordinationstraining . Köln: Sport&Buch Strauß.
Neumaier, A. & Mechling, H. (1994). Taugt das Konzept "koordinativer Fähigkeiten" als Grundlage für sportartspezifisches Koordinationstraining. In: Blaser, P., Witte, K., Stucke, Ch.: Steuer- und Regelvorgänge der menschlichen Motorik. Sankt Augustin: Academia.