Fett, faul, krank: Die körperliche Leistungsfähigkeit von Kindern
Es ist schlecht bestellt um die körperliche Zukunft unserer Jugend, glaubt man den Presseberichten und auch den wissenschaftlichen Publikationen. Unseren Kindern fehlt Bewegung, sie werden immer unbeweglicher und haben immer häufiger Haltungsschäden. Unsere Kinder sind leitungsschwach, sowohl in der Schule als auch in der Freizeit, die sie nur noch vor dem Fernseher und dem PC verbringen (vgl. Emrich, 2004). Sie können schlechter lesen und schreiben, sind gewalttätig und verweigern jegliche Anstrengung. Wer sich nicht bewegen kann bleibt auch geistig zurück, wird zappelig und depressiv. Unsere Kinder und Jugendlichen werden zu Weichlingen, Schlaffis und Stubenhockern (vgl. Thiele, 1999).
Derartige Darstellungen sind im übrigen nicht neu: Bereits die Philanthropen im frühen 18. Jahrhundert (Basedow, GutsMuths, Salzmann) beklagten unter Bezugnahme auf Rousseau den körperlichen Verfall, Eduard Spranger glaubte Ende der 1920er Jahre „ ...Symptome einer tiefgreifenden Kulturerkrankung ...“ zu erkennen die er u.a. darin sah, „dass die Menschen in Gefahr sind, ganz Geist zuwerden und vital abzusterben“. 1957 bemängelte Kurt Hahn den Rückgang der Fitness als eine Verfallserscheinung der modernen Zivilisation, 1960 sah Mesters die Aufgabe in der Sportlehrerausbildung „ ... im Kampf gegen den biologischen Verfall des Volkes mit einer verfrühten Invalidität und einer besorgniserregenden Zunahme der Haltungsschäden der Jugend ...“ und 1977 resümierte Prof. Dr. Kurt Nitsch, (Kinderarzt) in der Zeit die „... trostlose Situation in bezug auf die körperliche Entwicklung unserer Kinder“. Der aktuelle 1. Kinder- und Jugendsportbericht unterstützt ebenfalls die These eines abnehmenden sportmotorischen Leistungsniveaus (vgl. Klein et al, 2004) und liegt hier im politischen Trend der heutigen Zeit.
Es wird also schon seit dem 18. Jahrhundert ein Rückgang der körperlichen Leistungsfähigkeit mit einhergehendem körperlichen Verfall proklamiert und dennoch wage ich zu behaupten, dass dies nicht generalisierbar ist. Sicherlich ist die Schere zwischen den sportlichen (leistungsfähigen) und unsportlichen (und körperlich weniger leistungsfähigen) Kindern auseinander gegangen, aber betrachtet man das Sporttreiben eben der Kinder, die diesem nicht abgeschworen haben, so ist mit den allgemeinen Befunden nichts anzufangen. Unbehagen erzeugt dabei nicht die Tatsache, dass dieses Thema heutzutage öffentlich diskutiert wird, vielmehr wie es diskutiert wird. Einigkeit herrscht dabei v.a. in der dramatischen Schilderung der Veränderungen – etwa von Schuleingangsuntersuchungen – erhebliche Unterschiede ergeben sich jedoch schon beim vordergründigen Vergleich der Zahlen wie etwa die Angaben zum Übergewicht (nach welcher Definition auch immer) zwischen 10% und 33% oder der gesundheitlichen Schäden (was immer diese auch sein mögen) von Erstklässlern, die zwischen 20% und 50% schwanken. Dabei ist oft unklar, wie es zur Auswahl der Referenzdaten und dem Versuch des Zeitreihenvergleichs gekommen ist und entsprechend werden die Prozentzahlen aus unterschiedlichsten Untersuchungen aneinander gereiht. Veranschaulicht wird das Ganze dann durch Schilderungen (!) von betroffenen Lehren oder Ärzten gemäß dem Motto: früher war alles besser (vgl. Thiele, 1999).
Betrachtet man dies nun auch noch aus Sicht der Kinder und Jugendlichen, die die Wirkungen dieser ganzen Defizithypothesen über ihren eigenen körperlichen Zustand mitbekommen und ständig mit ihre eigenen Unzulänglichkeiten konfrontiert werden – etwa als nasser Sack bezeichnet zu werden, nur weil man keinen Klimmzug kann – dann dürfte es nicht verwundern, dass sich eben diese Zielgruppe auch weniger an den von uns so geschätzten Werten wie Hilfsbereitschaft, Rücksichtsnahme, Toleranz oder Fairness orientieren mag. Vielmehr sollten wir uns Fragen, wie wir mit unseren Heranwachsenden umgehen?!
Kindheitsrhetorik steht hoch im Kurs, nicht nur geschrieben, sondern mit teilweise bilanzierendem und kodifizierendem Charakter sowie öffentlichen Anhörungen und Symposien. Das Konstrukt der Kindheitsrhetorik unterscheidet drei grundsätzliche Formen derselben: die journalistische, die professionsgestütze und die sozialwissenschaftliche Kindheitsrhetorik.
Das sozialwissenschaftliche Konstrukt bezeichnet Texte, Bilder und Reden über Kinder und Kindheit, die in expliziter, teilweise impliziter, teilweise verdeckter Form Kindheit bewerten, indem sie beschreiben, wie Kinder leben, leben sollen und leben könnten und damit direkt und indirekt zu Interventionen aufrufen (vgl. Lange, 1999).
Von journalistische Kindheitsrhetorik wird gesprochen, wenn Öffentlichkeitsakteure von ihren Interessen her bestimmte Beiträge einem möglichst großen Publikum unterbreiten müssen. Sie müssen dabei sowohl interessanter und wichtiger als auch kompetenter und glaubwürdiger erscheinen als ihre Mitkonkurrenten. Dabei passen sie sich den Gesetzmäßigkeiten öffentlicher Kommunikation an: v.a. der Heterogenität und dem Laienstatus des Publikums. Zusätzlich werden bestimmte Thematisierungs- und Überzeugungsstrategien eingesetzt. Thematisierungsstrategien werden u.a. benutzt, um Aufmerksamkeit für Themen zu erzielen und damit ein Publikum für das Problem zu finden. Je mehr Konkurrenz zu finden ist, desto stärkere Betroffenheit muss ausgelöst werden, indem drastische Differenzen und Ausmaße behauptet werden (vgl. Lange, 1999). Und so lassen sich u.a. Überschriften wie Fette und faule Kinder erklären.
Von professionsgestützer Kindheitsrhetorik spricht man dann, wenn Vertreter spezifischer Berufsstände aktiv in den Kindheitsdiskurs eingreifen. An erster Stelle sind Lehrer und Erziehungswissenschaftler zu nennen, die schul- und bildungsinterne Probleme (Gewalt, Konzentrationsschwäche) auf schulexterne Problemkontexte von Kindheit heute - etwa Alleinerziehende Elternteile, Einzelkinder, Medien - zurückführen. Mit dieser defensiven Variante der Beschreibung der Kindheit heute werden systeminterne Defizite auf äußere Umstände (die Umwelt) rekurriert, so dass die Problemlösung auch eher dort anstatt intern gesucht werden soll.
Ein zweite Variante benutzt Aussagen über Kindheit heute um das eigene berufsspezifische Handlungsfeld ausdehnen und erweitern zu können. Dies wird als offensive Variante bezeichnet, an erster Stelle sind die Dienstleistungsberufe (Motologen, Gesundheitswissenschaftler, Psychiatrie, Psychologie etc.) zu nennen, denen die belegte mangelnde Kompetenz als Ausgangspunkt für ihre gruppenbezogenen Interventionsmaßnahmen dienen.
Betrachtet man die körperliche Leistungsfähigkeit und die Ursachen des angeblichen körperlichen Verfalls: Wenn wir ehrlich sind, wissen wir noch recht wenig über derartige Prozesse, etwa ob das Sitzen am Computer tatsächlich zum Verlust primärer Erfahrungen führt oder die Auswirkungen des Fernsehkonsums auf das Bewegungsverhalten oder das Körpererleben. Davon völlig losgelöst ist die Frage, welche Bewegungsqualitäten oder –quantitäten für ein zufriedenes Leben in einer postmodernen Gesellschaft überhaupt erforderlich sind, und ob die Tatsache, dass Großstadtkinder nicht auf Bäume klettern können, als Indikator für den drohenden Untergang sinnvoll erscheint. Selbst wenn dem so ist, so fehlen derzeit die Möglichkeiten, dies plausibel entscheiden zu können (vgl. Thiele, 1999).
Literatur:
- Emrich, E (2004). Zwischen Katastrophenstimmung und nüchterner Analyse. Körperliche Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 55 (9), S. 201.
- Klein, M., Emrich, E., Schwarz, M., Papathanassiou, V. Pitsch, W., Kindermann, W. & Urhausen, A. (2004). Sportmotorische Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen im Saarland – Ausgewählte Ergebnisse der IDEFIKS-Studie (Teil 2). Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 55 (9), S. 211-221.
- Lange, A. (1996). Formen der Kindheitsrhetorik. In: Zeiher, H., Büchner, B. & Zinnecker, J. (Hrsg.). Kinder als Außenseiter?, S. 75-95. Weinheim: Juventa.
- Thiele, J. (1999). Un-Bewegte Kindheit? Anmerkungen zur Defizithypothese in aktuellen Körperdiskursen. Sportunterricht, 48 (4), S. 141-149).