Berührungen und sexualisierte Gewalt im Sport

Im Training des Gerät- und Kunstturnens, egal ob im Verein, in der Schule oder an der Hochschule, ist es unerlässlich, dass Hilfestellung gegeben wird. Dabei kommt es Berührungen zwischen den Athleten und Trainern/Lehrern/Übungsleitern oder zwischen den Athleten untereinander. Im Rahmen der Debatte des  Missbrauchsskandals rund um den amerikanischen Trainer Nassar ist das Thema sexuelle Belästigung und Berührungen im Turnen in einer neuen Dimension angelangt. Doch wir müssen nicht bis in die USA schauen, um Skandale zu erkennen, auch der Deutsche Sport ist davor nicht gefeit.

Sexualisierte Gewalt ist und bleibt ein Thema von zentraler Bedeutung für alle Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Neben Schulen sind das u.a. Vereine, aber auch kirchliche Institutionen.

Wenn in einer solchen Institution eine Tat bekannt wird, ist Empörung der erste Schritt. Dann wird der Eindruck erzeugt, es handle sich um eine einmalige Sache, ein singuläres Ereignis, das mit Erschrecken zur Kenntnis genommen wird, das man hier nie erwartet hätte und das sich nie wieder wiederholen dürfe.

Bekannte Beispiele sind das

  • Canisius-Kolleg, eine Jesuitenschule im Herzen Berlins, von dem 2010 bekannt wurde, dass ein Jesuitenpater in den 70er/80er Jahren Jugendliche sexuell missbraucht hat,
  • das Internat Ettal, ein Bayerisches Benediktinergymnasium mit sexuellen Übergriffen bis ins Jahr 2005,
  • die Odenwaldschule, an der mindestens 132 Schülerinnen und Schüler seit den 60er-Jahren von mindestens 20 Lehrerinnen und Lehrern vergewaltigt wurden,
  • Fechtzentrum Tauberbischofsheim, in dem Athletinnen den Landestrainer bzgl. sexueller Belästigung beschuldigt haben,
  • Sportverein Leonberg, in dem 2017 bekannt wurde, dass ein Tischtennistrainer sich an mehreren Kindern über einen längeren Zeitraum vergriffen haben soll.


Dabei ist es egal, ob es kirchliche, weltliche, konservative, liberale, reformpädagogisch oder pädagogisch traditionell ausgerichtete Einrichtungen sind. Und es ist nicht irgendwo, es findet ganz in unserer Nähe statt.

Die Wissenschaft spricht daher von vier Grundirrtümern:

  • Es passiert nicht hier
  • Es passiert nicht jetzt
  • Es sind Einzeltäter
  • Es ist nicht so schlimm


Das bestätigen auch Zahlen:
600.000 Schülerinnen und Schüler sind von Missbrauch betroffen, das sind 1-2 pro Schulklasse (Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung). Und das ist nur das sogenannte Hellfeld!

Sport geht nicht ohne Berührungen

Unter einer Berührung versteht man den unmittelbaren Körperkontakt, der eine physische Verbindung zwischen der Lehrkraft und dem Sportler/-in herstellt und von Einem von Beiden ausgelöst wird. Dieser Körperkontakt kann nur mit einer relativ geringen Distanz aufgebaut werden, man kommt sich als Nahe. Ob ritualisierter Handschlag, Umarmen oder Küsschen zur Begrüßung, versehentliches Anrempeln im Zug oder Hilfestellung im Turnen, die Vielfalt ist enorm. Diese Vielfalt kann kategorisiert werden:

  • funktional-professionelle Berührungen
  • sozial-höfliche Berührungen
  • freundschaftliche Berührungen
  • Liebes- und Intimitätsberührungen
  • sexuell-erregende Berührungen
  • hierarchische Berührungen
  • gewalttätige Berührungen

(vgl. Wagener 2000, Thayer 1988, Weigelt 2010).

Wagener unterscheidet darüber hinaus die Kontextbedingungen, unter denen eine Berührung stattfindet.  Die zu beachtenden Kontexte sind

  • anthropologischer Raum,
    d.h. jeder Mensch nimmt eine Berührung anders war
  • gesellschaftlich-kultureller Raum,
    d.h. kulturelle Gepflogenheiten wie der von de Maiziere genannte Handschlag, Traditionen in einem Land, Rituale im Sport, Normen und Regeln einer Gesellschaft oder Tabus in einer Gesellschaft spielen eine wesentliche Rolle. Das ist für den Sport und die Diskussion um Integration enorm wichtig, denn nur unter Beachtung dieser kulturell-traditionellen Bedingungen kann Integration gelingen
  • persönliche Erfahrungen,
    d.h. die persönliche Vorgeschichte einer jeden einzelnen Person ist entscheidend für deren Wahrnehmung
  • der Beziehungsraum,
    d.h.in welcher Beziehung zwei sich berührende Menschen stecken (bestimmte Beziehungsformen lassen sich mit ein wenig Erfahrung und Aufmerksamkeit erkennen, etwa Liebesbeziehungen, hierarchische Beziehungen oder familäre Beziehungen)

(vgl. Wagener 2000).

Der Kontext  ist meines Erachtens entscheidend, denn nur im Zusammenhang zwischen Kontext und Kategorisierung ist eine Berührung korrekt zu deuten.

Wenn wir etwa auf den Sport schauen, gibt es hier neben der Hilfestellung weitere Situationen, die als selbstverständlich gelten:

  • Taktile Bewegungskorrekturen
  • Aufmunterndes auf die Schulter klopfen
  • Tröstendes in die Arme nehmen


Und Berührungen durch die Hilfestellung finden häufig an Körperbereichen statt, die sonst nicht akzeptiert sind: Hilfestellung an der Oberschenkel-Rückseite oder am unteren Rücken. Und ich spreche mit Absicht diese Bereiche an, denn Brust und Gesäß sind auch im Sport und im Turnen tabu. Ohne Ausnahme!

-> Siehe auch Beitrag Helfen und Sichern im Gerätturnen

Wie deuten wir Berührungen

Selbst bei einfachen, freundschaftlichen Berührungen kann der sogenannte physische Toleranzspielraum einer Person durchbrochen werden, denn jede Person akzeptiert Nähe zu anderen Personen in ganz unterschiedlichem Maß. Was die Einen als angenehm oder tolerabel empfinden, kann für die Anderen bereits peinlich oder zudringlich sein. Auch die Deutung einer Berührung kann sehr unterschiedlich sein, diese hängt von zahlreichen Faktoren, u.a. der Vorerfahrung der jeweiligen Personen ab und umfasst das Spektrum von angenehm, angemessen, über komisch bis hin zu unangenehm oder gar bedrohlich. Daher ist auch darauf zu achten, wie Turnerinnen und Turner auf Hilfestellung reagieren. Nicht jeder findet dies angenehmen und nicht jeder möchte sich helfen lassen, Manche empfinden Hilfestellung gar als Bedrängung (und wieder andere nutzen die Hilfestellung für inakzeptable Berührungen aus). Bei Ersterem muss zwischen Sicherheit und individuellem Toleranzspielraum mit viel Fingerspitzengefühl agiert werden, Zweiteres ist nicht tolerierbar

Berührungen im Sport werden wie auch Berührungen beim Arzt oder in der Physiotherapie den sogenannten funktional-professionellen Berührungen zugeordnet, die einer sozialen Normierung und Rationalisierung unterliegen. Dennoch ist es im Sport nicht vergleichbar und die gesamte Debatte um sexuelle Gewalt führt dazu, dass Lehrkräfte an Schulen aufgrund der potenziell sexuellen Konnotation Hemmungen davor haben, ihre Schüler zu berühren und somit Hilfestellungen im Turnen nicht von der Fachperson selbst sondern oft ausschließlich von den Schülerinnen und Schülern untereinander durchgeführt werden.

Sexualisierte Gewalt und sexuelle Gewalt

Die Begriffe sexualisierte Gewalt und sexuelle Gewalt weisen darauf hin, dass es sich um Taten handelt, bei denen Gewalt und Sexualität in Zusammenhang stehen. Bei sexueller Gewalt ist die körperliche Befriedigung des Täters im Vordergrund, während sexualisierte Gewalt als Oberbegriff für verschiedene Formen der Machtausübung mit dem Mittel der Sexualität verwendet wird.

Hierbei wird die enge und die weite Definition unterschieden. Bei der engen Definition geht es um erzwungene Handlungen wie Nötigung oder Vergewaltigung – immer 13% aller Frauen ab 16 Jahren in Deutschland sind lt. einer repräsentativen Studie davon betroffen.

Die weit gefasst Definition umfasst sexuelle Belästigung durch Worte, Bilder, Gesten und weiteren Handlungen, wozu auch sexistische Witze gehören.

80 bis 90% der Taten werden von Männern begangen, oft völlig normale Familienväter, deren Antrieb das Erleben von Macht darstellt.

Grenzüberschreitungen im Schulsport

Ina Hunger (Göttingen) hat 350 Kurznarrationen erhoben, in denen Schülerinnen und Schüler einschlägige, grenzüberschreitende  Situationen beschreiben mussten, die sie erlebt haben.

Hier wurden u.a. folgende Beispiele für erlebte Grenzüberschreitungen durch Lehrkräfte an Schulen dargestellt:

  • Berührungen des Körpers, die im Widerspruch z einer professionellen Berührung / Distanz stehen
    bspw. Hilfestellung greift in der 6. Klasse am Po
  • Gezielte Beobachtung des Körpers
    bspw. Brustschwimmübung an Land, Froschbeinbewegung, Lehrer schaut von hinten
    bspw. hochstützen am Reck, oben Turnen – Gefühl, alle schauen auf den Po
  • Kommentierungen des Körpers
    bspw. Üben von Handstand, Lehrer haut auf den Po „der ist aber nicht fest“
    bspw. Abiprüfung sollte morgen klappen, wenn du ein knappes Shirt trägst
  • Herstellen intimer Nähe
    bspw. Sportlehrer schaut in der Mädchenumkleide nach dem Rechten
    Referendar bietet Schülerin auf Exkursion an, gemeinsam im Zelt zu schlafen


Diese ausgewählten Beispiele zeigen bereits die Bandbreite der Grenzüberschreitungen.

Sexualisierte Gewalt im Sportverein

Für den Bereich der Sportvereine wurden zum Thema sexualisierte Gewalt verschiedene Untersuchungen durchgeführt und Leifäden und Maßnahmenkataloge entwickelt:

Der Deutscher Olympischer Sportbund (DOSB) und die Deutsche Sportjugend (dsj) haben schon vor Jahren einen Handlungsleitfaden für Sportvereine zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt veröffentlicht, welcher zentrale Aspekte der Prävention und Intervention von sexualisierter Gewalt im Sportverein beinhaltet.

Studie Safe Sport

Doch das Thema ist aktueller denn je. In einer Studie, die am 15. November 2016 erschien, stellen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Deutschen Sporthochschule Köln und des Universitätsklinikums Ulm Ergebnisse des Forschungsprojekts »Safe Sport« vor, in der die Häufigkeiten und Formen von sexualisierter Gewalt im Wettkampf- und Leistungssport sowie den Umsetzungsstand von Maßnahmen zur Prävention und Intervention in Sportverbänden und –vereinen erörtert werden.

Sexualisierte Gewalt kommt auch im Wettkampf- und Leistungssport vor, und zwar nicht häufiger oder seltener als in der Allgemeinbevölkerung. Rund 1.800 Kaderathlet/innen in Deutschland hatten sich dazu an einer Online-Befragung beteiligt und dabei Fragen zu Erfahrungen von sexualisierter Gewalt im Sport beantwortet.

Den Studien liegt ein weites Begriffsverständnis (siehe oben) zugrunde. Es wurden neben sexualisierten Gewalthandlungen mit Körperkontakt auch solche ohne Köperkontakt oder grenzverletzendes Verhalten einbezogen.

  • Etwa ein Drittel aller befragten Kadersportler/innen hat schon einmal eine Form von sexualisierter Gewalt im Sport.
  • Eine/r von neun der befragten Sportler/innen hat schwere und/oder länger andauernde sexualisierte Gewalt im Sport erlebt. Dabei tritt sexualisierte Gewalt i.d.R. nicht isoliert auf, sondern gemeinsam mit anderen Gewaltformen (z.B. emotionale oder körperliche Gewalt).
  • Die Mehrheit der betroffenen Athlet/innen ist bei der ersten Erfahrung sexualisierter Gewalt im Sport unter 18 Jahre alt.

Forderung nach mehr Sensibilisierung

An der Basis des Sports, in den rund 90.000 Sportvereinen, besteht dabei noch erheblicher Bedarf für die Sensibilisierung zum Thema und die konkrete Umsetzung von Schutzmaßnahmen. Nur etwa die Hälfte aller Vereine gab in der repräsentativen Befragung an, dass das Thema relevant für die sei. Das reicht nicht aus, im Gegenteil stimmt der der niedrige Umsetzungsstand von konkreten Präventionsmaßnahmen in den Vereinen angesichts der Ergebnisse aus der Athlet/innen-Befragung bedenklich, denn sexualisierte Gewalterfahrungen machen Athlet/innen am häufigsten im unmittelbaren Kontext des Vereins.

Zugleich beinhaltet die Vereinskultur wichtige Voraussetzungen für den Schutz vor sexualisierter Gewalt, denn in Vereinen mit einer klar kommunizierten Kultur des Hinsehens und der Beteiligung ist das Risiko für Athlet/innen, sexualisierte Gewalt zu erfahren, signifikant geringer.

Aufgrund der erschreckend hohen Anzahl an Betroffenen, der teilweise enorm geringen Sensibilität von Männern (man nehme nur Witze, Bemerkungen und Pfiffe mit Blick auf Frauen), erscheint es unumgänglich, dass sich Vereine und Verbände ernsthaft mit der Thematik sexualisierter Gewalt auseiander setzen. Bei uns gibt es das nicht ist, wie Eingangs beschrieben, genauso falsch wie „das ist doch gar nicht so schlimm“ und „so habe ich es nicht gemeint“. Die Toleranzschwelle ist innerhalb der Gesellschaft deutlich zu niedrig – und ich gehöre nicht zum konservativen Klientel Deutschlands, doch meine langjährige berufliche und ehrenamtliche Tätigkeit sowie die Analyse der wissenschaftlichen Veröffentlichungen zur Thematik lassen keinen anderen Schluss zu: es besteht ein enormer Handlungsbedarf des Sports in Deutschland – auf allen Ebenen.

Literatur

  • Deutsche Sportjugend (2016). Forschungsprojekt: »Safe Sport«. Zugriff am 20. Januar 2017 unter https://www.dsj.de/handlungsfelder/praevention/kinderschutz/forschungsprojekt-safe-sport/
  • Herzig, S. (2010). Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen - Begriffe, Definitionen, Zahlen und Auswirkungen. In Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.), Forum Sexualaufklärung und Familienplanung.
  • Höhmann, K. (2017). Sexualisierte Grenzverletzungen. Ein wichtiges Entwicklungsthema für Organisationen. Sportunterricht, 66 (9), S. 259-263.
  • Hunger, I., Böhlke, N. & Witte, C. (2017). Körper im Fokus. Erlebte Grenzüberschreitungen im Sportunterricht. Sportunterricht, 66 (9), S. 264-269.
  • Wagener, U. (2000). Fühlen - Tasten - Begreifen. Berührung als Wahrnehmung und Kommunikation. Oldenburg: BIS Verlag.
  • Weigelt, L. (2010). Berührungen und Schule-Deutungsmuster von Lehrkräften. Eine Studie zum Sportunterricht. Wiesbaden: Verlag Springer.
  • Wiesche, D. (2013). „Ich muss immer etwas vormachen, damit die anderen sehen, wie es nicht geht!“. Zugriff am 28.10.2015 unter http://www.hofmann-verlag.de/project/zs_archiv/archiv/sportunterricht/2013/Sportunterricht-Ausgabe-Juli-2013.pdf
  • Wolff, M. & Kampert, M. (2017). "Wer entscheidet darüber, wann nah zu nah ist?" Körperkontakt und Macht in professionellen Beziehungen im Kontext stationärer Settings. In Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 3, S. 293-312.

 

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